El Chaltén existiert eigentlich erst seit 1985, als die argentinische Regierung beschloß, hier eine Stadt aus dem Boden zu stampfen, um seine Besitzansprüche um den Cerro Fitz Roy gegenüber dem Nachbarn Chile besser geltend machen zu können. Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, wurde in 1995 ein internationales Übereinkommen zwischen beiden Ländern über den “endgültigen” Grenzverlauf in dieser Region getroffen. Ob die Entscheidung der Ortsgründung dabei geholfen hat, ist mir nicht bekannt. Zur Steigerung der Bekanntheit und zum Aufschwung als Touristenort wesentlich beigetragen haben dürften aber die diversen Besteigungen des Cerro Torre und des Fitz Roy mit ihren extrem steilen und hohen Wänden. Der Ort selber wirkt wie alle Städte Argentiniens – sehr stark in seiner Struktur geplant durch seine rechtwinklig zueinander verlaufenden Straßen, also schachbrettartig angelegt. Der ursprüngliche Charakter eines kleinen Bergortes, wie er auch durch eine ganze Anzahl insbesondere früher Bauten zum Ausdruck gebracht wird, wird zunehmend verändert. Hotelkomplexe und mehr als eine Handvoll nicht in die Landschaft eingepasster Bauten zerstören das ursprüngliche Bild. Positiv anzumerken ist das Bemühen, die Bauten auf relativ großen Grundstücken zuzulassen, wodurch eine Auflockerung erreicht wird. Offensichtlich ist in diesem Ort so etwas wie Goldgräberstimmung ausgebrochen, denn auf extrem vielen Grundstücken wurde gebaut, standen Rohbauten und warteten, manche schon länger, auf ihre Fertigstellung, wurde an bestehende Bauten angebaut, manchmal auch nur angeflickt; das Bauhandwerk schien zu boomen, mancher dürfte sich aber auch mit dem Bau übernommen haben, denn sonst stünde nicht auf einer nennenswerten Anzahl Baustellen die Arbeit still.
Erkennbar ist auch, der Ort lebt vom und für den Tourismus. Hier arbeiten wohl alle Menschen direkt oder indirekt für die anreisenden Gäste. Die Bekanntheit von El Chaltén hat auch seinen Preis – für die Gäste, denn das Preisniveau ist hier enorm hoch. Katrin hat fast 8 Euro auf den Ladentische gelegt und ist dann mit etwa 200gr. mittelmäßigem Gouda, 4 Birnen, 1 kl. Flasche Wasser und 6 kleinen Semmeln nach Hause gegangen.
Von Fitz Roy und Cerro Torre ging auch auf mich eine besondere Magie aus. Schon vor Jahren hatte ich den Wunsch, einmal vor diesen Bergen zu stehen. Anlaß für diese Begeisterung waren einige Berichte über verschiedene Besteigungen der Berge, über unterschiedliche Routen, insbesondere von Freeclimbern, über das Leiden und die Warterei auf den einen oder zwei gute Tage für eine erfolgreiche Besteigung, das Leben unter der Zeltplane bei draußen tagelang tobenden Stürmen. Hier wurden besondere alpine Eigenschaften der Kletterer gefordert, dies faszinierte mich.
Nun sind wir hier und wollen das Terrain erkunden. D.h. zuerst Informationen über die möglichen Touren einholen; besonderes Interesse haben wir an einer Gletscherwanderung, vorzugsweise einer, bei der man nicht per Boot bis an den Gletscher (Viedma) gefahren wird, sondern sich an ihn langsam und vielleicht auch mit Schweiß verbunden annähert. Wir fanden eine Agentur, die ein Trecking zu und auf dem Gletscher des Cerro Torre anbietet. Die Durchführung hängt jedoch von der Genehmigung durch die Parkverwaltung ab, wir befinden uns hier im NP Los Glaciares. Die bisherigen Eisverhältnisse haben heute und Morgen eine Genehmigung verhindert; wir stehen auf der Warteliste und hoffen auf ein o.k. in den nächsten drei Tagen. Wir haben zwar Literatur zu den in Patagonien möglichen Treckingrouten mitgebracht, bei der NP-Verwaltung aktuelle Informationen einzuholen, empfiehlt sich dennoch. Wesentlich Neues erfuhren wir zwar nicht, nutzten jedoch die Gelegenheit, den hinter der Verwaltung liegenden Mirador hochzueilen, um auf unser Dorf von oben schauen zu können. Der weitere Weg in Richtung Lago Viedma war nicht sehr ergiebig, die Sicht auf den riesigen See fanden wir bei der Anfahrt auf El Chaltén deutlich eindrucksvoller.
Da für heute noch wechselhaftes Wetter angesagt war, hingegen am morgigen Mittwoch strahlender Sonnenschein versprochen war, soll eine größere Tageswanderung dann Morgen stattfinden. Am heutigen Nachmittag fuhren wir zum knapp 40 Kilometer entfernten Lago Desierto, einem quasi Grenzsee, denn unweit seines westlichen Endes liegt Chile. Für ortskundige Wanderer eine Möglichkeit, in einer 2-Tages-Tour das Land zu wechseln, Voraussetzung, sich bei der am östliche Seeende befindlichen Grenzstation Argentiniens abzumelden. Gerade von Chile nach Argentinien gewechselt stand uns nicht der Sinn nach erneuten Grenzformalitäten, aber nach einer kleinen Wanderung am See entlang. Leider entschieden wir uns für einen Pfad, der an der Südseite des Lago Desierto entlang lief und irgendwann im Nirgendwo endete; viel weiter wäre es auch nicht gegangen, denn auf dieser Seeseite fällt der Berg teilweise steil in den See. Für Katrin ergab sich natürlich wieder eine Gelegenheit, die Seequalität zu testen. Dennoch, die Wanderung durch den Altbestand patagonischen Waldes, der seiner selbst überlassen wird. durch die Ruhe des Waldes mit Blick auf einen immer wieder von starken Böen aufgewirbelten See hat unserer Stimmung nur gut getan und Lust auf weitere Wanderungen in dieser besonderen Landschaft geweckt. Morgen werden wir uns von dieser Lust Richtung Berg und Basislager leiten lassen..
Waren wir heute allein unterwegs, die am Ostende des Sees liegenden Boote, die gerade gewartet wurden, locken in der Hochsaison wohl eine deutlich größere Anzahl Besucher hierhin, dann jedoch auch zum Wandern als zu einer Bootstour auf dem Lago Desierto.
Sowohl in der Parkverwaltung wurden wir auf den besonderen Schutz der “Huemuls” hingewiesen, eine Art patagonisches Rehwild, als auch durch mehrere Schilder entlang unserer Fahrtstrecke zum Lago Desierto hieran erinnert. Die Tiere sind sehr scheu und äußerst selten zu Gesicht zu bekommen. Scheue Tieren geraten wenn entdeckt schnell in Panik. Wir haben dies bei den ebenfalls sehr scheuen Guanakos erlebt. Offensichtlich in Panik geraten, wurden die der Straßen in der Pampa entlang gezogenen Drahtzäune manchem der Tiere zum Verhängnis, denn hin und wieder entdeckten wir bei der Vorbeifahrt in den Zäunen hängende Guanakokadaver. Kein schöner Anblick. Und was mussten wir in diesem Schutzgebiet für die Huemuls feststellen : fast über die gesamten 40 Kilometer waren die Flächen rechts und links der Straße von Drahtzäunen eingefasst. Wie soll hier eine geschützte Tierart ohne Risiko das Revier wechseln können? Wie viele Tierkadaver haben schon in den Zäunen gehangen? Irgendwie völlig pervers diese unvollkommene und unverständliche Art Tierschutz zu betreiben, die durch derartige Einzäunungen ad absurdum geführt wird. In Teilen Patagoniens sind die Aktivitäten von Menschen wie Tompkins, der u.a. den Park Tumalin geschaffen und über eine Stiftung der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hat, oder die Umweltstiftung Conservación Patagónica, die im Valle Chacabuco in der Nähe von Cochrane ebenfalls dabei ist, einen großen Park zu schaffen, nicht von allen Bewohnern der Region begrüßt worden. Doch eines mussten die Kritiker neidlos anerkennen. Nachdem im Valle Chacabuco zig tausende Kilometer Weidezäune abgebaut worden waren nahm die Population der Guanakos und der Huemuls sehr schnell zu! Vielleicht erinnert man sich hier irgendwann einmal an dieses Beispiel und folgt ihm. In Ermangelung eines echten Huemuls steht hier sein Warnschild :
In Chalten sein heißt wandern. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, einen oder zwei Blicke auf den Cerro Torre und/oder den Cerro Fitz Roy zu werfen. Und das praktische ist, zwischen beiden Routen gibt es einen Verbindungsweg, also die Chance, an einem Tag beide dominante Berge zu besuchen. So auch meine/unsere erste Überlegung, denn für den heutigen Mittwoch war strahlender Sonnenschein vorhergesagt, beste Bedingungen sollte man meinen. Wer weiß, wie die kommenden Tage ausfallen. Mental hatten wir uns schon auf eine lange Wanderung eingestellt; eine Überprüfung der Richtzeiten für die einzelnen Wegabschnitte zeigt dann, wie lang der Tag bei diesem Wahnsinnsplan werden würde. Unter 10 Stunden bei Wandern im Eiltempo war nichts zu machen, wenn wir die beiden vorgeschobensten Aussichtspunkte auch erreichen wollten, eher war mit 12 Stunden zu rechnen, da Mensch ja auch Zeit zum Schauen haben möchte. Gewiß, wir waren überzeugt, die Strecke absolvieren zu können, die letzten Streckenabschnitte aber wohl mit hängender Zunge, starrem Blick, angestrengtem Gesichtsausdruck und der ständigen Frage, wie lange noch. Es gab keinen Grund, uns dieses Programm aufzubürden, wir haben ja Zeit. Wie richtig die Entscheidung war wussten wir nach unserem heutigen Treck, der 7 1/4 Stunden mit 30 minütiger Mittagspause dauerte; dies war zwar schneller als die Richtzeit, aber bei der großen Runde wären wir nach dieser Zeit noch im Anstieg zum Aussichtspunkt Maestri gewesen. Und wir merkten beide was es heißt, diese Zeit fast am Stück und im allgemeinen nicht zu langsam zu wandern und fühlten uns bei Rückkehr zum Nachtlager ganz schön platt.
Für heute entschieden wir uns, dem Cerro Fitz Roy nahe zu kommen, eine Tour mit einem sehr steilen letzten Anstieg und einer Richtzeit für den Anstieg von 4 1/2 Stunden. Endlich konnten die schweren Bergstiefel aus dem Auto geholt werden, die wir gerade für solche Wanderungen um den halben Globus mitgeschleppt haben, bei mir waren dann 2,7kg an den Füßen, bei Katrin wurden dann zusätzliche 1,5kg mitgeschleppt. Um 09:45 Uhr machten wir uns leicht verproviantiert auf den Weg, der uns anfangs durch einen schönen kaum windzerzausten da in einer Mulde liegenden Wald führte. Sobald wir seinen Schutz aber nach einer guten halben Stunde verlassen hatten, griff der Wind ganz schön zu und wir waren immer wieder froh, wenn wir wieder in einer windgeschützten Lage weiter wandern konnten. Zunehmend dem starken Wind ausgesetzte Waldpartien zeigten uns auch, welche Wirkung der Starkwind hat, denn Bruchholz lag überall herum. Weiter aufwärts steigend nahm die Wuchshöhe der u.E. hier vorhandenen Buchenart immer weiter ab, bis die Bäume keine Bäume, sondern eine Art großer Bonsai waren, maximal 2 Meter hoch gewachsen. Eine echte Ausbildung der Kronen war wahrscheinlich wegen des Windes auch kaum möglich. Hier konnte man also richtig zerzauste Baumexemplare bewundern.
Ab und an war es möglich, einen Teil unseres Zielberges in der Ferne zwischen den Bäumen zu sichten, auch Ausblicke ins Tal und zu anderen gletschertragenden Bergmassiven unterbrachen unseren Vorwärtsdrang. Nach einer guten Stunde hatten wir dann unser erstes Aha-Erlebnis, der erste Aussichtspunkt, noch ziemlich weit vom Berg entfernt, aber immerhin, war erreicht. Da war es also, das Ziel unserer Anstrengungen. Ganz schön hoch, steil, imponierend, dominierend.
Der weitere Weg führte uns dann nahezu auf dem hier erreichten Höhenniveau in Richtung Basislager Poincenot, wo der Erstbesteiger des Fitz Roy sein Lager aufgeschlagen hatte. Zwischendurch passierten wir eine Art Hochmoor, kleine Seen, durchquerten und passierten niedriges Gebüsch, mussten immer wieder über einfache Holzbretter kleine Bäche überqueren, bevor wir in den letzten Schutzwald vor dem Berg, der auch dem Basislager damals Schutz bot, eintauchten. Auch heute wird dieses Lager als Zeltplatz von Wanderern und Bergsteigern genutzt. Wir waren gut im Zeitplan.
Schon von weitem konnten wir die danach folgende Passage erkennen – es ging steil bergauf, oft über Schotter, Steine, Steinstufen, durch Bachläufe, wir kamen nicht nur kräftig ins Schwitzen, sondern die Pumpe musste auch Dauerleistung erbringen. Gute 400 Höhenmeter waren zu überwinden; uns hat das mehr als eine Stunde gekostet aber der dann mögliche Blick war ein schöner Lohn für die Anstrengungen. Da stand er nun vor uns, der Fitz Roy; wir waren nur durch eine Gletscherlagune, der Laguna los Tres, mit milchiggrünem Wasser vom Berg getrennt. Korrekt gesagt, Luftlinie muß es mehr als ein Kilometer sein, der Lagunedurchmesser dürfte dabei maximal 500 Meter betragen. Was man auf den famosen Fotos dieses Berges immer nicht sieht, vor dem Berg ist erst einmal nicht nur ein Gletscher, sondern ein kleiner vorgeschobener Felsen zu bezwingen, der eigentliche Berg also doch nicht zum Greifen nah. Sei es drum, nicht andächtig doch beeindruckt von diesem großen zackigen steil in den Himmel ragenden Felsen mit seinen diversen Nebengipfeln, seiner steilen Wand, an dem sich kaum Schnee ablagern kann, saßen wir windgeschützt hinter einem Felsen und starrten hinüber. Es waren schöne Minuten auf dem Aussichtspunkt. Natürlich ist unser Tagesziel auch Ziel vieler anderer im Ort abgestiegener Wanderer. Während jedoch während des Hinanwanderns man immer wieder Plaudertaschen hörte, die in unseren Augen die schöne Ruhe beim Wandern störten, oben auf dem Aussichtspunkt war es sehr still; auch die übrigen Wanderer waren wohl durch den tollen Anblick stumm geworden.
Man sollte nicht nur die Augen auf den Cerro Fitz Roy richten, sondern das gesamte Bergpanorama im Blick haben, die verschiedenen herabgleitenden Gletscher rechts und links, die anderen Berggipfel des Massivs, die in unserem Rücken liegenden Lagunen, die Laguna Madre und die Laguna Hija, nicht zu vergessen die weiter im Norden vergletscherte Bergkette. Es gab viel zu staunen.
Nach unserem Vesper trieb der Wind uns wieder auf den Rückweg; wir hatten gut geschwitzt und es war unangenehm, so dem Wind ausgesetzt zu sein. Leider, aber es war vernünftig, ging es den gleichen Weg zurück. Wir sind ja keine Gems und können den steinigen Steilweg des Schlußanstiegs hinunterhüpfen – zumindest die Vernunft sagte uns, hier eher mit Bedacht zu gehen. Und so kamen wir dann auch ohne Blessuren wieder an unserem Startort in El Chaltén an, spürten einige unserer Muskeln und waren froh, den Schweiß bei einer warmen Dusche vom Körper spülen zu können.
Und Morgen geht es dann in Richtung Cerro Torre.
Wenn man so wandert und nicht alleine auf der Strecke ist, gibt es viele Begegnungen und Beobachtungen, wer so alles und wie sich dem Ziel nähert. Da trifft man zu einen auf die jungen Gipfelstürmer, die mit schwerem Rucksack bepackt, Zelt obenauf, Liegematte an der Seite festgezurrt, manchmal den Schlafsack unten am Rucksack befestigt, mit schnellem Schritt und nach vorne gerichtetem Blick dem Ziel entgegen, in der Regel zu zweit. Die beiden Campgrounds vor beiden Bergmassiven sind eine gute und preiswerte Alternative zu den teuren Unterkünften im Dorf; zudem hat man die Gelegenheit, fast als erster morgens einen Blick auf das Massiv zu werfen. Seltener begegnet man einer größeren geführten Gruppe, die in gemächlichem Tempo, eingebremst von dem voran gehenden Führer, dem Ziel entgegen steuert, immer wieder von Pausen unterbrochen, um die notwendige Luft für den letzten steilen Anstieg zur Lagune de los Tres zu schöpfen. In dieser Gruppe befindet sich in der Regel das Mittelalter. Seltener begegnet man der älteren Generation, aber wenn, dann sind diese 60-jährigen richtig fit und sind es gewohnt, sich im Berg zu bewegen. Beeindruckend ihnen zuzusehen, wie schnell sie den Berg hinunter eilen konnten. Das Gros der Wanderer stellen die junge und die jüngere Generation. Diese treten meistens in Paaren auf, wobei Unterschiede festzustellen sind. Da ist zum einen der vorauseilende bestimmende Mann, dem die Frau so gut es geht folgt. Manchmal ist dann das Tempo so angepasst, daß die Nachfolgende nicht in die Schnappatmung verfällt und sogar noch Luft hat, dem Mann etwas mitzuteilen. Das kann manchmal ganz schön nervig sein, wie wir auf unserem Rückweg erfahren mußten. Über lange Zeit lief hinter uns ein französisch sprechendes Paar, wobei der Sprechpart zu 99% von der Frau übernommen wurde. In einem Affentempo strömten die Wörter aus ihr heraus, Pausen gab es keine, der Sprachfluß wurde sehr selten durch eine ein-Wort-Bemerkung des Mannes unterbrochen. Ich hatte den Eindruck hinter mir würde versucht werden, auf dem Rückweg Faust I und Faust II vorzutragen, eine Plage auch für uns als Vorangehende. Dann gibt es die Paare, bei denen die Frau vorangeht; begegnet man dieser Gruppe, wird man meistens freundlich und fröhlich vom weiblichen Part gegrüßt, während der Mann stumm, manchmal mürrisch, uns keines Blickes würdigend, hinterherstapfte. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Dann sind da noch die Gruppen zweier Männer oder Frauen zu erwähnen. Erstere eilen in der Regel zügig voran, wir hörten selten Gespräche, man verstand sich auch ohne verbale Kommunikation. Begegneten wir zwei oder manchmal auch mehr Frauen, war deren Herannahen schon von weitem zu hören; da wurde permanent gesprochen, gelacht, gejuchzt; viel Augenmerk auf die Umgebung wurde nicht gelegt. Also, man trifft hier so unterschiedliche Charaktere an, daß die Basis für eine soziologische Untersuchung besteht, fragt sich nur, wer sich dieser Aufgabe unterzieht, mich haben nur die unterschiedlichen Typen fasziniert, wobei mir die weitgehend stumm dahin wandernden Zeitgenossen, die auch immer wieder einen Blick in die Umgebung werfen, am nahesten sind.
Auf unseren vergangenen Reisen hat Katrin immer wieder ein ganz bestimmtes Buch eingepackt in der Absicht, wenn es die Zeit erlaubt, es zu Ende zu lesen. Zurückgekehrt lag das Lesezeichen vielleicht 10 Seiten weiter als zuvor. Das Buch und Katrins Leseeifer ist fast ein running gag. Um so erstaunter war ich festzustellen, wie Katrin den nur für den Fall des Falles, sollte ich (!) als Leseratte Langeweile verspüren, mit einigen Büchern bestückten E-bookreader an sich nahm und, nachdem passende Krimilektüre gefunden war, sich abends mit dem elektronischen Buch zurückzog. inzwischen wurden nicht nur 10 Seiten, sondern ganze Bücher gelesen.
Das Motto des heutigen 5.12. könnte lauten : der Weg ist das Ziel.
Unser Ziel war die Laguna Torre zu Füßen des Cerro Torre, ebenfalls ein markanter Felsen in der Landschaft, der die Extremkletterer immer wieder herausfordert. Der Berg ist ein störrischer Felsen, nicht nur für de Bergsteiger, sondern auch für denjenigen, der nur einen Blick auf ihn werfen will. Nun wehen hier ja stramme Winde, Wolken ziehen mal hoch mal niedrig durch das Land, verfangen sich auch in den Bergmassiven, so daß es eine Glücksfrage ist, den gesamten Berg in seiner vollen Größe zu sehen. Heute Morgen war der Himmel bedeckt, Sonne wurde dahinter vermutet, aber nicht gesichtet, die Chance, den Torre zu sehen als gering eingeschätzt. Dann eben nur den halben Felsen sehen und los ging es. Die von uns dabei durchquerte Landschaft ähnelte der auf dem Weg zum Fitz Roy gesichteten, knorrige aber oft sehr gelichtete Buchenwälder, viel Bruchholz, Wege durch Bachbetten, Hochmoorflächen mit abgestorbenen Bäumen, Wege durch niedriges Buschwerk – sie ähnelte, aber war nicht gleich, zu sehen gab es am Wegesrand genug. So zum Beispiel das “Mahnmal” für unachtsames Verhalten im Nationalpark, wo Feuer aus bekannten Gründen verboten ist und man auch mit der Zigarettenglut noch Unheil anrichten kann. Nach etwa einer Stunde Wandern erreichten wir einen Aussichtspunkt auf das Torremassiv. Und wie erwartet, der Cerro Torre hatte einen Wolkenschleier. Wir warteten eine ganze Weile, denn die Wolkendecke war nicht dicht und so hofften wir auf ein Wolkenloch, durch das dann der ganze Torre zu sehen sei. Die Natur machte uns den Gefallen nicht, dennoch, der Bergteil, der sichtbar war machte deutlich, welche Herausforderung dieser spitz nach oben ragende Felsen für manchen Bergsteiger ist.
Nach mehr als einer weiteren Stunde standen wir dann am Fuße einer riesigen Endmoräne die uns zeigte, bis wohin einmal der Gletscher des Torremassivs gereicht hat. Das muß aber einige tausend Jahre her sein. Hier endete dann der im Grunde bequeme Anmarsch, der zwar gute 10 Kilometer lang war, aber nur 200 Höhenmeter aufwies. Jetzt ging es den Geröllweg hinauf, eine endliche Plackerei, denn nach knapp 10 Minuten standen wir auf der Kuppe der Moräne und blickten auf die Laguna Torre und den dahinter liegenden Felsen. Vor kurzem soll die Laguna noch eisbedeckt gewesen sein, hiervon war nichts mehr zu sehen. In ihr schwamm ein kleiner Eisbrocken, der von einer an den See heranreichenden Gletscherzunge des Glacier Túnel abgebrochen sein muß. Die vor uns liegende große Gletscherfläche wirkte nicht überall bläulich, was sicher auch daran lag, daß ein guter lagunenaher Teil unter Geröll und Erde lag. Auf jeden Fall war die schiere Größe des Gletschers beeindruckend, auch wie hoch er in das Massiv hinauf reichte, über einzelnen Bergschultern lag. So schön der Gletscher in seinem Blau auch anzuschauen war, unser Hauptaugenmerk galt ja dem Cerro Torre. Wir hatten schon an einigen Stellen unseres Hinweges immer wieder Gelegenheit einen Blick hinüber zu unserem Wanderziel zu werfen und mussten dabei feststellen, die Sichtbedingungen wurden nicht besser, sondern schlechter. So war nun ein noch größerer Teil der Nadelspitze dauerhaft von Wolken umhüllt, wesentliche Änderungen waren nicht in Sicht. Dennoch, hier dem Fels in seiner Schroffheit, fast Unbezwingbarkeit, seiner Schönheit, seinem Farbbild gegenüber zu sitzen, war es wert, den Weg gegangen zu sein. Wir haben nicht alles zu Gesicht bekommen, konnten aber einen Eindruck von der Schönheit und Mächtigkeit, der Faszination dieses Felsens gewinnen.
Der Rückweg gestaltete sich nahezu ereignislos. Da das Wasser hier oben trinkbar sein soll, trat unsere Wasserexpertin zu Testzwecken an und wurde von der gefundenen Qualität überzeugt, frisch, klar und genießbar, ohne jegliche Zusatzstoffe!
Natürlich blickte ich mich immer wieder um, konnte dabei aber keine wesentliche Änderung der Sichtverhältnisse feststellen. Dann verschwand das Massiv aus unserem Blickfeld, da wir den Ausläufer eines Hügels umwandern mußten. Bei Annäherung auf unseren ersten Aussichtspunkt zeigte ein Blick zurück, daß die Wolkendecke auf einmal deutlich höher lag – also doch eine Chance, den Cerro Torre in seiner ganzen Pracht und Größe zu sehen? Zehn Minuten später waren wir am Aussichtspunkt angelangt und blickten nach Westen, zum Torremassiv. Ja, da stand er, ohne Wolkenkranz, diese steile spitz zulaufende Wand, auf der sich, so sagt man, kein Schnee halten soll (was nicht stimmt, denn auch obere Teile sind vergletschert). Der Weg war das Ziel, aber zum Schluß haben wir sogar das Ziel noch gesehen, wenn auch aus größerer Entfernung als erhofft. Ein gutes Ende unseres gut 6-stündigen Wandertages. Was will man mehr? (z.B. den Torre und den Fitz Roy in schönem Sonnenlicht, morgens oder abends z sehen, dann dürfte der Granit der Felsen noch besser zur Geltung kommen als jetzt.)
Heute am 6.12. wollten wir es etwas langsamer angehen lassen. es war einiges zu regeln, die Wäsche zur Reinigung zu bringen, Recherchen wegen der Unterkünfte in El Cafayate und Puerto Natales durchzuführen, die eingegangen Mails zu checken und zu beantworten. Die Zeit verging dabei schneller als geplant, was auch an der extrem schlechten Internetverbindung hier im Ort liegt. Manchmal hat man das Gefühl, hier wird noch mit Rauchzeichen die Botschaft zum nächsten Berg übermittelt, von wo es dann ebenso weiter geht. Manche Mails waren überhaupt nicht zu versenden, es war manchmal zum Verzweifeln.
Nicht nur zur Entspannung, sondern um am Abend noch einmal bei anderen Lichtverhältnissen einen letzten Blick, quasi zum Abschied, auf den Cerro Torre zu werfen, eilten wir spät zum ersten Aussichtspunkt. Und wie zur Bestätigung aller Befürchtungen, auch diesmal kein vollständiges Bild, die Wolken hingen fast im Felsen fest. Dennoch, es war zum Abschied eine schöne abendliche Stimmung wie zur Bestätigung, wie wohl wir uns hier in diesen vier Tagen gefühlt haben. El Chaltén, seine Berge, Gletscher und seine Wandermöglichkeiten gehören zweifelsfrei zu den bisherigen Höhepunkten. es hätten auch mehr Tage an diesem Ort sein können!