So wie wir vor fünf Tagen nach El Chaltén hineingeblasen wurden, half der Rückenwind uns heute, die Weiterreise nach El Calafate schnell zu bewältigen. Wie in den letzten beiden Tagen so auch heute wieder tiefhängende Wolken, jedoch eine offene Wolkendecke, so daß die Sonne immer wieder durchbrach. Wie der ständige Blick in den Rückspiegel jedoch zeigte, die beiden die Region dominierenden Cerro Torre – völlig hinter den Wolken versteckt – und der Cerro Fitz Roy – um oberen Drittel wolkenumsäumt – waren wieder einmal mehr zu ahnen als zu sehen, das Panorama, dass dem auf El Chaltén aus der Ebene Zufahrenden von weitem geboten wird, war sehr unvollständig.
Auch die in den Viedma See ragende Gletscherzunge des Viedma blieb in unserer Wahrnehmung blass – ohne strahlendes Sonnenlicht wirkt aus der Ferne selbst ein so großer Gletscher wie der Viedmagletscher nur eingeschränkt, es fehlt der strahlende Glanz des Eises. Stattdessen bemerkt man vorwiegend das auf dem Gletscher liegende Geröll. Der stramme Wind dürfte im übrigen auch heute den an einer Bootsfahrt zum Gletscher Interessierten einen Strich durch die Rechnung machen, denn die Fahrten finden nicht bei etwas höherem Seegang statt.
Schon früher habe ich darauf hingewiesen, wie die die Straßen begleitenden Drahtzäune, um die riesigen Estancias abzugrenzen und ggf. die Schafe auf dem Weideland zu halten, insbesondere den Guanacos immer wieder zum Verhängnis werden. Sie bleiben ab und an mit ihren Hinterläufen in den Drähten hängen und verenden dann elendig am Zaun. Kein schönes Bild, weder für den mit offenen Sinnen Vorbeifahrenden noch für den Bildbetrachter.
Die Größe des Viedma-Sees wird erst bewußt, wenn man wie wir, die gut 80 Kilometer hin zu seinem östlichen Ende fährt und dabei immer wieder einen Blick auf See und die immer weiter zurück bleibende Bergkette um El Chaltén wirft. So nach und nach verschwinden dann die Bergkonturen; nicht erst nach 100 Kilometern, wie manche begeisterte Reisende beschreiben, sondern deutlich früher. Dennoch, es ist ein sehr beeindruckendes Bild zu sehen, wie das Massiv bei der Anfahrt so langsam aus der Ebene emporwächst und einen über viele 10 Kilometer begleitet.
Dann war dass Ende des Viedma-Sees erreicht und wir fuhren über leichte Hügel, immer wieder von nicht ganz so starken Böen angeschoben, zur Seite gedrückt oder gebremst. Auf diese Gefahr wird hier durch ein besonderes Schild aufmerksam gemacht.
Erstaunlich die Fantasie des Gestalters, denn Bäume sahen wir so gut wie keine, stattdessen Pampa, Steppe und ab und zu auch mal eine kleine Estancia in der Ferne. Dies ist nicht unbedingt ein Gebiet, in dem eine intensive Landwirtschaft möglich ist. Bald hatten wir die Landzunge durchquert und befanden uns an dem nächsten, noch größeren See, dem Lago Argentino, an dessen westlichem Ende sich das Eisfeld befindet, zu dem auch der Gletscher Perito Moreno gehört und gut 80 Kilometer davor unser heutiges Tagesziel El Calafate.
Unser üblicher Weg zur Touristeninformation war heute nicht möglich, die Stadt feierte Stadtjubiläum und die wichtigste Zufahrtsstrasse in die Innenstadt war gesperrt. Unser Versuch einer Umfahrung führte zufälligerweise auch zu einem der denkbaren Quartiere, bei dem wir dann auch nicht nur der Einfachheit halber für mindestens zwei Nächste eincheckten.
El Calafate ist kein Ort, in dem man länger als nötig bleiben sollte. Der innerstädtische Bereich ist völlig auf den Tourismus zugeschnitten, etwas, das man als eigenständiges Gesicht der Stadt bezeichnen könnte, fehlt. Manchmal orientieren sich die Fassaden an alpenländischer Skiortarchitektur, manchmal sind sie einfach, schlicht und einfaltslos. Vor einigen Jahren muß die Stadtoberen wohl der Größenwahn erfasst haben, als ein Uferboulevard gebaut wurde, weit ab vom Wasser; jeweils zweispurig und mit modernen Lampen bestückt. Bei unserem Spaziergang auf dieser “Flanierstrecke” blieben wir fast völlig allein, selten nutzte ein Fahrzeug die Straße, Fußgänger waren überhaupt nicht zu sichten. Der Zustand des Boulevards jämmerlich; nicht nur das wuchernde Unkraut störte, sondern die erheblichen Baumängel oder inzwischen entstandenen Schäden. Nicht eine einzige der sicherlich nicht im Baumarkt erstandenen Lampen war funktionsfähig. Die Krönung sahen wir dann auf dem Rückweg zur eigentlichen Hauptstraße des Ortes. Über eine große Freitreppe, ebenfalls von den genannten funktionsuntüchtigen Lampen gesäumt, gelangte man auf einen riesigen Platz und von dort auf die Hauptstraße. Dieser gesamte Bereich befindet sich in einem erbärmlichen Unterhaltungszustand, keine Visitenkarte für die Stadt. Im übrigen hat die Stadt, welche hat es nicht, zwei Gesichter : die Touristenfassade in der Hauptstraße und den angrenzenden Nebensträßchen – die Fassade der Wohnumgebung der hier arbeitenden Menschen, sie kündet eher von einer Armut und teilweisen Verwahrlosung. Zusammengefasst, wir haben in dem Ort nichts gefunden, was uns wirklich interessiert hat und zum längeren Bleiben anregt.
El Calafate ist das Tor zum Perito Moreno. Bei einem derartigem Slogan unterstellt man, durchschreitet man das Tor ist man am Ziel – hier weit gefehlt. Hamburg warb damit, das Tor zur Welt zu sein, auch ein anspruchsvoller Slogan; verläßt man Hamburg auf dem Seeweg, geht es in die Welt hinaus, insofern kann man diesem Werbespruch seine Berechtigung nicht absprechen. Aber El Calafate – hier erreicht man den Gletscher Perito Moreno nach einer gut 1-stündigen Autofahrt, er liegt fast 80 Kilometer westlich von der Stadt.
Heute am Sonntag, der 9.12., wollten wir endlich einen der Höhepunkte einer Patagonienreise besuchen, den Gletscher Perito Moreno. Während wir am Vortag bei nahezu strahlendem Sonnenschein hierhin gekommen waren, zeigte sich uns heute ein sehr bedeckter Himmel. Es hätte ja auch schlimmer kommen können, trösteten wir uns, indem es heftig regnet. Bislang hatten wir mehrfach die Erfahrung einer Wetterbesserung zur Mittagszeit hin gemacht; vielleicht trifft dies auch heute zu. Also machten wir uns sehr früh auf den Weg, denn wir wollten dem befürchteten Ansturm der Massen ausweichen. Auch rückblickend – Massen besuchten heute den Gletscher nicht, die Saison steht noch am Anfang. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir, nachdem schon gute 30 Kilometer vor dem eigentlichen “Ereignis” die Eintrittsgebührt – 130 CLP pro Nase – erhoben wurde, das erste Bild eines Gletscherteils sahen. Auch aus großer Entfernung sehr beeindruckend. Und die ersten kleinen Eisschollen trieben im See.
Diese Wahrnehmung verstärkte sich, nachdem wir dann den riesigen Gletscher in seiner ganzen sichtbaren Ausdehnung, Tiefe und Breite, vor uns hatten und seine Mächtigkeit bestaunen konnten. Sind schon die Dimensionen dieses Gletschers umwerfend und führen zum Staunen, wunderten wir uns ebenso sehr über die sichtbaren Gletscherstrukturen, seine Gletscherspalten, die tiefen Risse, die sich über fast das gesamte sichtbare Gletscherfeld zogen, die kleinen Türme, die – noch – nicht abgestürzt waren, die Gletscherteile, die noch der Schwerkraft trotzten und “oben” bleiben, die unterschiedliche Farbe in einzelnen Gletscherteilen, teilweise strahlendes, wenn auch z.B. durch Gerölleinschlüsse manchmal verunreinigtes Weiß, manchmal eher ein Grau und dann zur Krönung unterschiedliche Blautöne, von hellblau bis ins dunkelblau gehend. Einfach umwerfend dieser Anblick. Man weiß nicht, was imponierender ist, die Mächtigkeit, die Eisdicke, die schiere Größe, das Farbenspiel, die durch die Spalten signalisierte Gefahr eines Gletscherspaziergangs.
Die Parkverwaltung hat für die Besucher umfangreiche und lange Besichtigungsstege gebaut, Tribünen errichtet und es ermöglicht, sicherlich mehr als 2 Kilometer auf den Stegen an unterschiedlichen Stellen sich dem Gletscher zu nähern. Hierzu gehören auch mindestens drei große Plattformen. Eine davon in der Nähe des Zugangs zu diesem Wegesystem, zur zweiten muß man zahlreiche Stufen hinunter – und später auch wieder hinauf – laufen und die weiteren erfordern dann erheblich mehr Gehaufwand. Festzustellen war, daß 100% der Besucher es bis zur Plattform 1 schaffte, weniger als die Hälfte wurde auf Plattform 2 gesehen, obgleich diese deutlich näher am Gletscher liegt; die Aussichtspunkte im Norden und weiter hinaus erreichten nur eine handverlesene Anzahl. Für uns war das positiv, denn das ermöglichte ein ungestörtes Betrachten des Naturwunders.
Der Gletscher Perito Morena hat die Eigenschaft, mehr Eis zu bilden als abschmelzt, d.h. er dehnt sich aus. Gegenüber der Gletscherzunge befindet sich die Halbinsel Magellanes, auf der auch die Besichtigungsplattformen sich befinden. Alle par Jahre ist der Gletscher so stark angewachsen, daß er an die Halbinsel stößt und damit den Lago Argentino am Canal de los Témpanos durchtrennt. Der Zustand hielt bislang immer so lange an, wie der Gletscher dem Wasserdruck und dem steigenden Wasserpegel im südlicheren Teil des Lago Arentino standhielt. In naher Zukunft steht ein derartiges Schauspiel wieder bevor, denn aktuell ist ein Teil des Gletschers bis an die Halbinsel herangewachsen; die unteren Besucherwege waren deshalb auch gesperrt. Wir Besucher konnten deshalb den Gletscher aus sehr geringer Entfernung betrachten, auch ein Privileg. Die von uns beabsichtigte Bootsfahrt entlang der Gletscherkante konnte deshalb nicht stattfinden, stellte aber keinen großen Verlust für uns dar.
Jeder Besucher hofft natürlich darauf, daß während seiner Anwesenheit ein großes Gletscherstück abbricht und mit Getöse sich ins saukalte Wasser stürzt. Übrigens : die Strahlungskälte des Gletschers war durchaus wahrnehmbar, es war spürbar kälter in der Nähe des Eisblocks als z.B. oben auf dem Parkplatz. Während unserer mehr als 2 1/2 Stunden vor Ort hatten wir Glück. Mehrfach hörten wir, wie an nicht einsehbaren Stellen Abbrüche erfolgten, mehrfach waren wir aber auch Zeuge eines solchen Gletscherabbruchs vor unseren Augen. Diese Gletscherabbrüche kündigen sich leider nicht an, so daß Reaktionsgeschwindigkeit gefordert ist, wenn man ein solches Ereignis dokumentieren möchte. Nicht immer war ich dabei spürbar zu spät. Ein tolles Bild, wenn durch den Bruch eine Eiswolke aufsteigt, das Eisblock sich mit Getöse, oft auch auf andere Gletscherteile aufschlagend gen Wasser bewegt, dort niederschlägt, eine riesen Fontäne entsteht, einen Seegang im Umfeld erzeugt, der manches Boot heftig erschüttert hätte, mehrfach auf und ab steigt, manchmal sich sofort in kleinere Teile zerlegt, bevor sich das Wasser beruhigt. Ein tolles Schauspiel.
Irgendwann gibt es nichts Neues mehr zu sehen, auch für uns nicht, so daß wir am frühen Nachmittag uns wieder auf den Weg nach El Calafate machten. Wir hatten leider nicht das Glück, den Gletscher bei Sonnenlicht bestaunen zu dürfen. Dann sollen die Farben noch stärker leben, der strahlende Eindruck des Gletschers noch imposanter sein. Aber wir waren vor Ort, und das was wir sahen, war es wert, hierher zu reisen, hat uns immens beeindruckt.
In unserem Hostel war uns ein Prospekt über eine archäologische Stätte zwischen El Cafayate und El Chaltén aufgefallen, in der u.a. versteinerte Baumstämme in Größenordnung zu sehen sind. Wir waren auf der Fahrt hin nach El Calafate daran vorbeigefahren, erinnerten uns jedoch nicht, ein Hinweisschild gesehen zu haben. Dem Internet zur Folge geht in der Nähe eines Hotels La Leona eine Geröllpiste ab, der Zugang zu der Fundstelle. Natürlich lässt sich der Besuch auch mit einer Agentur durchführen, aber kurzfristig lässt sich so etwas nicht darstellen. Das hieß dann ein gutes Stück Weges zurück fahren, was uns völlig neue Eindrücke verschaffte.
Waren wir etwas enttäuscht, sowohl bei der Hinfahrt auf El Chaltén als auch bei der Wegfahrt nur Teile der Bergmassive des Cerro Torre und des Fitz Roy sehen zu können, wurden wir heute voll entschädigt. Zwar war der Himmel wieder bedeckt, nur selten kam anfangs die Sonne wirklich durch, aber die Wolkendecke “flog” hoch. Wahnsinnige Ausblicke auf die Bergwelt im Norden. Korrigieren muß ich mich : man kann von Süden kommend die Bergmassive wirklich aus einer Entfernung von gut 200 Kilometern in voller Pracht, wenn auch nicht in riesiger Dimension ganz klar erkennen und identifizieren. Ein Geschenk des Tages, das wir durch mehrfaches Anhalten ausgiebig in Anspruch nahmen.
Bei dem Versuch, den versteinerten Wald zu finden, waren wir leider nicht erfolgreich. Hinweisschilder gab es nicht, der Beschreibung folgend fanden wir keinen Zugangsweg zur der archäologischen Stätte und fuhren genervt wieder zur Bundesstrasse zurück. Im Hotel La Leona erfuhren wir dann, ein Zugang sei nur mit Führer und folglich über eine Agentur möglich. Ärgerlich, denn einen entsprechenden Hinweis fanden wir nirgends, auch die Bemerkung des Ansprechpartners im Hostel, der Eintritt betrage 50 CLP ließ erwarten, dort normalen Zugang zu erhalten. Rückblickend haben wir jedoch Verständnis, denn die Anlage dürfte mehr oder weniger ungeschützt sein und ein Hinweis könnte “anregen” sich das eine oder andere Souvenir einzustecken.
Dann ging es endgültig in Richtung Puerto Natales, dem NP Torres del Paine entgegen. Lange Zeit begleitete uns das altbekannte Bild einer kargen Steppe; die Landschaft ermöglichte zunehmend einen Blick in die Unendlichkeit, Erhebungen, Hügel- oder Bergzüge traten immer weiter zurück. Ab und an dann eine kleine Abwechslung durch “Skulpturen” am Rande.
(die drei Brüder)
Als unsere Strecke sich so langsam nach Südwesten richtete, änderte sich das Landschaftsbild allmählich. Die karge Vegetation nahm in kleinen Schritten zu, die riesigen Weideflächen wurden zunehmend insbesondere von Schafen und nah an der Grenze zu Chile auch hin und wieder durch Rindvieh genutzt. Und zur Abwechslung gab es zwischendurch auch kleine Wasserflächen und eine andere Vegetation.
Bei Cerro Castillo überquerten wir die Grenze nach Chile; dieser Nebenübergang wird wenig frequentiert, so daß wir auch nach kurzer Prozedur wieder in Chile waren. Die Holperstrasse wurde durch eine neue Asphaltstrasse abgelöst. Eigentlich hätte wir bereits hier Richtung Torres de Paine abbiegen können, aber wo übernachten? Also Fahrt nach Puerto Natales, vorbei an einer zunehmend üppigeren Vegetation, einer interessanteren Landschaft, in der die Ebene von Hügeln und Bergen abgelöst wurde, in kleinen Teichen auch Flamingos nach Nahrung suchten und das alles auf der Straße an das Ende der Welt (Ruta del Fin del Mundo).
Und dann waren wir nach weiteren 65 Kilometern auch schon in Puerto Natales, ein kleiner Hafenort, der sich am Fjord entlangstreckt. Ein Hostal hatten wir vorreserviert, in Zentrumsnähe. Die Welt ist ein Dorf, wie wir wiederholt feststellen mussten. Hier in unserem Hostel Niko’s II Adventure trafen wir, jetzt zum dritten Mal, auf Phil und seine Frau, die eine halbe Stunde vor uns per Bus aus El Calafate eingetroffen waren.